„Die Knappheit bei Medikamenten für Kinder war ein Warnschuss. Wir müssen die gesetzlichen Regelungen und die Strukturen auf allen Ebenen grundlegend überprüfen und schauen, welche Änderungen notwendig sind, um Versorgungsengpässe künftig zu verhindern. Bund, Länder, Ärzteschaft, Apotheker und Pharmaindustrie sollten sich nun gemeinsam an einen Tisch setzen. Wir brauchen grundsätzliche Lösungsstrategien zur sicheren Arzneimittelversorgung in Deutschland“, sagte Ministerpräsident Boris Rhein am Montag in Wiesbaden. Er hatte zur Lenkungskreissitzung der Initiative Gesundheitsindustrie Hessen in die Staatskanzlei geladen. Der Zusammenschluss aus Vertreterinnen und Vertretern der Hessischen Landesregierung, von Unternehmen der hessischen Gesundheitsindustrie, vom Landesbezirk Hessen-Thüringen der IG BCE und von hessischen Hochschulen arbeitet an Konzepten, um den Gesundheitsstandort Hessen zu stärken.
Heimische Arzneimittelproduktion und europäische Zusammenarbeit stärken
„Erkältungs- und Grippewellen werden genauso wiederkommen wie Pandemien. Die verkrusteten Strukturen bei der Zulassung und Herstellung von Medikamenten müssen aufgebrochen werden“, sagte Rhein weiter und fügte hinzu: „Wir müssen europaweit stärker zusammenarbeiten und die heimische Produktion stärken – vor allem auch durch schnellere Genehmigungsverfahren bei der Zulassung und Herstellung von Arzneimitteln. Mit dem Aufbau des Biontech-Werks in Marburg haben wir in Hessen gezeigt, wie es geht. Die aktuellen Lieferengpässe bei Medikamenten machen deutlich, dass die Versorgung mit Arzneimitteln in Deutschland nur mit einer innovativen und leistungsstarken Gesundheitsindustrie sichergestellt werden kann. Dafür braucht es eine starke Pharmaindustrie mit Zukunftsinvestitionen am Standort Deutschland. Ich habe mich deshalb Anfang November bei der Bundesregierung für die Teilnahme Deutschlands am EU-Förderprogramm ,IPCEI Health' eingesetzt.“
Dr. Boris Bromm von Fresenius Kabi Deutschland und Leiter der Arbeitsgruppe Versorgungsicherheit in der Initiative veranschaulichte die angespannte Lage bei der Medikamentenversorgung: „In den letzten Monaten hat sich die Lage bei der Versorgung von Arzneimitteln erheblich verschlechtert. Betroffen waren und sind zum Teil noch Fiebersäfte, Antibiotika und Insuline, aber auch Krebsmedikamente und Immunglobuline. Dies hat Auswirkungen auf besonders vulnerable Gruppen wie Kinder und chronisch kranke Patientinnen und Patienten. Die Initiative hat Lösungsvorschläge erarbeitet, die die Versorgungssicherheit langfristig stabilisieren sollen. Fehlentwicklungen, wie sie unser Gesundheitssystem in der Vergangenheit im Bereich der patentfreien Arzneimittel zugelassen hat, dürfen nicht fortgesetzt werden.“
Gesundheitsminister Kai Klose betonte die Bedeutung einer verlässlichen Versorgung der Patientinnen und Patienten mit Arzneimitteln von hoher Qualität und zu angemessenen Preisen: „Deshalb bringen wir das Thema seit Jahren immer wieder auch in der Konferenz der Gesundheitsministerinnen und -minister (GMK) intensiv ein. Auf Initiative Hessens wurden zum Beispiel der GMK-Beschluss zur verbesserten Verfügbarkeit von Gentherapien, die Initiative zur Verbesserung der Versorgungslage mit Blutplasma sowie Ende Januar der Beschluss zu sogenannten Orphan Drugs für Menschen, die an seltenen schweren Erkrankungen leiden, gefasst. Die große Herausforderung besteht darin, auch künftig Anreize für Innovationen zu bieten und gleichzeitig die Bezahlbarkeit und Verfügbarkeit von Arzneimitteln zu gewährleisten." Er unterstütze auch die Forderung mehrerer Länder, den Pharma-Dialog der Bundesregierung unter Beteiligung der Länder fortzusetzen, äußerte Klose weiter.
Hessen muss wieder die Apotheke Europas werden
Ministerpräsident Rhein sagte, die Landesregierung mache sich mit großem Engagement für die hessische Gesundheits- und Pharmaindustrie stark. „In der Initiative Gesundheitsindustrie Hessen entwickeln wir gemeinsam mit Wirtschaft und Wissenschaft den Standort Hessen. Unser Ziel ist es, die Menschen in unserem Land jederzeit mit qualitativ hochwertigen Arzneimitteln versorgen zu können. Daher setzen wir uns auch dafür ein, dass Arzneimittel wieder stärker in Europa produziert werden – vor allem in Hessen. Hessen war einmal die Apotheke Europas. Das muss Hessen wieder werden.“
Rhein dankte der chemisch-pharmazeutischen Branche vor allem für ihre Leistungen während der Corona-Pandemie und kritisierte den Bundesgesundheitsminister für die Finanzreform zur Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung. „Das Finanzstabilisierungsgesetz schadet dem Pharmastandort Hessen. Die Herstellerabgabe für Arzneimittel wird um fünf Prozentpunkte erhöht – zwar zeitlich befristet, aber zusammen mit anderen Maßnahmen wird das die Pharmaindustrie Milliarden von Euro kosten und die Anreize für Innovationen und Forschungsaktivitäten verringern. Zudem gefährden die Maßnahmen die Produktion in Deutschland und der Europäischen Union“, sagte Rhein und ergänzte: „Um den Produktionsstandort zu stärken, bedarf es einer vernünftigen Strategie. Versorgungsrelevante Arzneimittel dürfen nicht ausschließlich aus Drittstaaten importiert werden. Es bedarf zügiger, rechtssicherer und vor allem wettbewerbsfähiger Genehmigungsverfahren. Zudem müssen die Produktionsbedingungen für biologische und biotechnologisch hergestellte Arzneimittel in Deutschland und der EU attraktiv gehalten und die Fehler vermieden werden, die zu einer Produktionsverlagerung bei Generika geführt haben.“
Hessens Wirtschaftsstaatssekretär Dr. Philipp Nimmermann verwies auf die Leistungsstärke der hessischen Gesundheitswirtschaft: „Die industrielle Gesundheitswirtschaft gehört zum wirtschaftlichen Kern Hessens – mit 95.700 Erwerbstätigen ist sie der größte Industriearbeitgeber in Hessen, ihre Bruttowertschöpfung liegt bei rund 10,5 Milliarden Euro. Das ist auch Ergebnis umfangreicher Investitionen und Innovationen der Unternehmen.“
Unternehmen bereits stark belastet durch Energiekrise
Dr. Matthias Wernicke, Geschäftsführer der Merck Healthcare Germany GmbH und Mitglied im Lenkungskreis der Initiative, machte die Notwendigkeit produktionsfreundlicher Rahmenbedingungen deutlich: „Politik ist hier gefordert, durch entsprechende Rahmenbedingungen dafür Sorge zu tragen, dass es nicht zu einer Deindustrialisierung kommt. Aktuell werden die Unternehmen bereits durch hohe Energiekosten und langsame Genehmigungsverfahren in ihrer Investitionsbereitschaft gehemmt. Zusätzlich wirkt eine Politik, die trotz der Lippenbekenntnisse im Koalitionsvertrag Innovationen nicht wertschätzt – wie im jüngsten GKV-Finanzstabilisierungsgesetz von Gesundheitsminister Lauterbach – als gravierendes Hemmnis für Investitionsvorhaben in Deutschland.“
Sabine Süpke, Landesbezirksleiterin der IGBCE Landesbezirk Hessen-Thüringen, ergänzte: „Innovationsfreundliche politische Rahmenbedingungen sind notwendig, um den Gesundheitsstandort Hessen mit seinen wertvollen Arbeitsplätzen zu erhalten und weiter auszubauen.“ Der außergewöhnliche Tarifabschluss 2022 stärke zusätzlich den hessischen Standort der Gesundheitsindustrie.
„Gesundheitsindustrie ist bereit dazu“
„Wer Produktion und Forschung ziehen lässt, kreiert mittel- bis langfristige Versorgungsengpässe“, sagte Prof. Dr. Jochen Maas, Forschungsleiter bei Sanofi Deutschland und Leiter der Werkstatt Wissenschaft und Forschung in der Initiative. Er wies darauf hin, dass die Gesundheitsindustrie in der Pandemie ihre Agilität unter Beweis gestellt habe und neue Kooperationen rund um die Impfstoffherstellung und -abfüllung zum Nutzen aller eingegangen sei. „Mit diesem Mindset ist es uns in der Pandemie gemeinsam gelungen, einen neuen Impfstoff in nur elf Monaten zur Marktreife zu bringen. Diese Einstellung sollten wir uns auch für die Zukunft und für andere Arzneimittel bewahren, die Gesundheitsindustrie ist bereit dazu“, sagte Maas. Darüber hinaus gelte es, den Standort Hessen und Deutschland im Bereich der klinischen Studien wieder deutlich zu stärken und den verlorenen Spitzenplatz in Europa wieder zurück zu erarbeiten.
Wissenschaftsstaatssekretärin Ayse Asar wies darauf hin, dass die Landesregierung die Forschung und Entwicklung im Pharma- und Chemiebereich fördere. „Seit 2008 haben wir hier in Hessen dafür insgesamt eine Milliarde Euro in die Hand genommen. So konnte auch das LOEWE-Zentrum ,Translationale Medizin und Pharmakologie' gegründet werden. Es ist so erfolgreich, dass es in ein Bund-Länder-finanziertes Fraunhofer-Institut umgewandelt wurde. Ein weiterer wichtiger Player ist das House of Pharma, das relevante Akteure vernetzt. Auch der Standort Marburg ist eine Säule im Bereich der Spitzenforschung.“
Spitzenforschung komme am Ende dem Wirtschaftsstandort Hessen zu Gute, erläuterte Prof. Dr. Dr. Gerd Geißlinger, Direktor des Instituts für klinischen Pharmakologie der Goethe-Universität Frankfurt, Institutsleiter des Fraunhofer-Instituts für Translationale Medizin und Pharmakologie, ITMP und Mitglied im Lenkungskreis der Initiative. „Die Gesundheitsforschung in Hessen sichert nicht nur die künftige technologische Souveränität, sondern zeichnet sich auch durch eine signifikante ökonomische Hebelwirkung aus. Ein aktuelles Wertschöpfungsgutachten der Forschungsgruppe marktorientierte Unternehmungsführung an der Technischen Universität Dresden zeigt, dass jeder vom Land Hessen in anwendungsorientierte Forschung investierte Euro mit einem Hebel von circa 3,5 an direkten und indirekten Steuern zurückfließt.“
„Zum Wohle der Allgemeinheit und zum Schutz der Patientinnen und Patienten“
Innovative digitale Ansätze sind für eine erfolgreiche Entwicklung der Gesundheitsindustrie fundamental. Die Nutzung von Gesundheitsdaten trage dazu bei, Innovationen im Bereich der Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln voranzutreiben. Hessens Digitalministerin Prof. Dr. Kristina Sinemus sagte: „Hessen ist einer der Top-Wirtschaftsstandorte in Europa, und Künstliche Intelligenz ist die Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts. Eine wichtige Grundlage für den erfolgreichen Einsatz von KI im Gesundheitswesen sind Daten. Deshalb müssen wir gemeinsam stetig an den optimalen Rahmenbedingungen arbeiten, um Daten zum Wohle der Allgemeinheit und zum Schutz der Patientinnen und Patienten nutzen zu können, ohne die Datenhoheit des Einzelnen zu gefährden. Ich freue mich daher, dass die Landesregierung in so regem Austausch zu diesem Thema mit der Initiative Gesundheitsindustrie steht und wir gemeinsam Lösungsansätze erarbeiten, die in Hessen und darüber hinaus die Wichtigkeit des Themas verdeutlichen sollen.“
Olaf Weppner, Geschäftsführer AbbVie Deutschland und Mitglied im Lenkungskreis der Initiative, hob hervor: „Um das Potential von Gesundheitsdaten auch in Deutschland nutzen zu können, ist es zentral, dass der Zugang zu pseudonymisierten oder anonymisierten Gesundheitsdaten nicht vom Forschungsträger abhängig sein darf, sondern auch für die privatwirtschaftliche Forschung zugänglich ist, wie zum Beispiel beim Forschungsdatenzentrum.“ Die Nutzungsregeln müssten klar und einheitlich gestaltet sein, wenn man im internationalen Forschungswettbewerb eine Spitzenposition einnehmen wolle.